Fotografie und Bühne
Streng katholisch erzogen, stand ich bereits im Vorschulalter auf der großen Bühne im heimischen Kinderzimmer. Als Ministrant durfte ich da meinem großen Bruder (er mimte den Papst) Zuckerwasser und Kekse anreichen. Diese Karriere setzte ich später in der Stadtpfarrkirche fort, wo ich sogar zweimal den Ministranten-Geschwindigkeits-Aufsage-Wettbewerb der lateinischen Messe gewann. Ein Meilenstein in meinem Leben. Auch im Kindergarten nutzte ich meine schauspielerischen Fähigkeiten im Vortäuschen von Übelkeiten, um nach Hause geschickt zu werden. Während der Schulzeit ergänzte ich diese Qualitäten mittels naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Mein Rezept: 1 rohes Ei, 1 Flasche Cola und 1 großes Eis – spätestens nach einer halben Stunde kotzte ich dann auf das Angabenblatt der Schulaufgabe. Im weiteren Schulverlauf verfeinerte ich meine Kenntnisse durch das Aufsagen von „Bürgschaft“, „Glocke“ und anderer umwäzenden Werken der deutschen Literatur. Zuguterletzt perfektionierte ich meine Künste durch die begeisterte Teilnahme an einem Rhetorikkurs in der Oberstufe. So gewann ich an Überzeugungskraft, oder anders ausgedrückt, ich quasselte die anderen einfach in Grund und Boden. Es nützte alles nichts. Meine Bewerbung am Theaterprojekt teilnehmen zu dürfen, wurde lächelnd abgelehnt. So blieb mir nichts anderes übrig, als den „Biedermann“ mit dem Fotoapparat zu rezitieren. Eine große Leidenschaft begann.
Immer wenn die Landesschauspielbühne in unser beschauliches Städtchen kam, stand ich als Fotoreporter seitlich an der Bühne und knippste, was das Zeug hielt. Einige Bilder schafften es sogar ins lokale „Käsblättle“. Das war mir als ambitionierten Dreikäsehoch jedoch zu wenig und ich verlegte mich auf Sportfotografie. Mein Erfolg war gigantisch und so durfte ich nach kurzer Zeit sogar Texte dazu schreiben. Naja, dachte ich mir, auch Fußball ist so eine Art Bühne, nur die verbalen Unterschiede der Akteure waren deutlich anderer Natur (zumindest in der B-Klasse). Leider durfte ich auf der großen Bühne, der Stadtpfarrkirche, nicht fotografieren, das erlaubte „Froschi“ (unser Pfarrer) nicht. Diese großartigen Inszenierung von Hochämtern und dergleichen faszinierten mich dennoch und mir wurde klar, Schauspiele sind tolle Fotomotive, sogar besser als Motorrad-Bergrennen.
So richtig Zugang fand ich jedoch erst während des Studiums an der Folkwangschule in Essen. Dort wurde auch Gesang und Tanz gelehrt. Tanz, Bewegungsfotos, tolle Posen, schöne Körper, ein Dorado für meine Linse. Schnell merkte ich, dass ich immer einen Tick zu spät abdrückte, was mich fürchterlich ärgerte, und mir wurde klar, dass ich mehr über Abläufe, Bewegung und Choreografie wissen musste, um gut zu sein. Folglich nahm ich Tanzunterricht (Stepptanz und Ballett). Es sah grässlich aus, brachte mir aber viele Erkenntnisse. Auch der Choreografiekurs steigerte meine Kenntnisse enorm, und so wusste ich nach kurzer Zeit schon immer im Voraus, was als nächstes passieren würde. Die Fotos wurden immer besser. Die größte Bühne, vorwiegend im Sommer, war der riesige Innenhof der alten Abtei, in der unsere Schule untergebracht war. Hier übten die Tanzeleven und Schauspieler, ein Füllhorn für meine Kamera. Da ich ja Grafik studierte zeichnete ich die Akteure auch oftmals, und begann das Zusammenspiel der körperlichen Attitüden zu verstehen. Professor Schubert, ein alter Bauhausmann, faszinierte mich mit seinen Ausführungen über Bildaufbau, Spannungen, Kontraste und Kohärenzen als Stilmittel der Darstellung. Dann hatte ich auch noch das große Glück, Pina (eigentlich Philippine) Bausch kennenlernen zu dürfen. Ihr Tanztheater öffnete mir neue Welten, aber was für mich entscheidender war, bei ihr entdeckte ich erstmals den Menschen hinter der Aktion. Mit Nahaufnahmen und Portraits versuchte ich in der Folge die Charaktere zu erfassen.
Dennoch, für die großen Schaubühnen reichten meine Fähigkeiten einfach nicht. Aber die kleinen, und wie ich feststellte, nicht minder interessanten Bühnen, wurden zu meinem Aktionsfeld. Hier lernte ich viele ernsthafte, faszinierende, manchmal auch reichlich verschrobene Persönlichkeiten kennen. Allein schon menschlich eine große Bereicherung. Selbst Laienaufführungen (aber nur gute) fanden meine große Aufmerksamkeit. Die Begegnung mit dem Bauchtanz entfachte große Reize auf mein fotografisches Auge. Und auch hier wieder ganz andere Charaktere – einfach toll.
All diese, aber auch noch viele andere Kenntnisse beeinflussen mich noch heute, sowohl als bildlichen Reprodezenten, als auch als Mensch. Ein Gewinn, den ich jedem Menschen wünsche.